Die Meisterin der Untoten ist die ewige Widersacherin des Boron und repräsentiert das widernatürliche Auferstehen von Kadavern zu untoten Ungeheuern, das Beherrschen von Totengeistern und das Erwecken und Formen von Alpträumen.
Der Anlass zu einem Pakt mit Thargunitoth ist nahezu immer das Streben nach Macht über Tod und Untod – der Beschwörer will Skelette und Kadaver als seine Diener und Kämpfer erheben, Geister längst verblichener Persönlichkeiten nach den Geheimnissen und Schätzen ihrer Epoche befragen und mancher hofft wohl auch auf ein ewiges Leben in Form einer wohlkonservierten, an Körper und Geist unversehrten Mumie. Dass Thargunitoth auch über Alpträume gebietet, ist dabei in aller Regel zweitrangig.
Kurzum, Thargunitoth-Verehrung und Nekromantie sind aufs engste miteinander verwoben und es gibt nur wenige Nekromanten, die wirklich frei von dem Verdacht auf gelegentliche Abmachungen mit der Meisterin der Untoten erhaben sind. Ein deutliches Anzeichen eines Paktes ist jedoch das zunehmend leichenhafte Äußere, das der Paktierer in wenigen Jahren annimmt, wenn sein Körper all die Merkmale zu zeigen beginnt, die sonst Verstorbenen zueigen sind – vom Ausfall der Haare über blasse, leichenfleckige Haut bis zu einem ekelsüßen Verwesungsgeruch und der schleichenden Skelettierung ganzer Extremitäten. Auch heißt es, ab einem gewissen Stadium des Verfalls seien Paktierer nicht mehr in der Lage, gewöhnliche Nahrung zu sich zu nehmen und müssten von Knochenmehl und vermodernden Leichenteilen leben. Manche Naturphilosophen haben daher schon die Theorie aufgestellt, dass es sich bei den gefürchteten Ghulen um die nekromantischen Dämonenbündner einer unbekannten, ansonsten untergegangenen Rasse handele, bei denen Leib und Astralgeist noch zusammenhielten, die Seele mit allen höheren Geisterfunktionen aber längst dahin sei – die Übertragbarkeit der Ghulenseuche durch Bisse ist damit allerdings nicht zu erklären.
Wer aber als Nekromant sein Leben vollauf lebt und ohne zusätzliche Gunstbeweise der Thargunitoth nach seinem Ende zu ihr fährt, dem verheißt das Daimonicon, dass er nicht in die Seelenmühle muss, sondern als Morcan in Ewigkeit existiert – diese Sklavenmeister der gefangenen Seelen sind die mächtigsten Nichtgehörnten in ihrem Gefolge und können des Nachts von sterblichen Träumern Besitz ergreifen und ihre Körper lenken, während der Geist in einer überaus lebensechten Albtraumwelt langsam zugrunde geht oder wahnsinnig wird. Eine solche Existenz als Heilsversprechen zu begreifen, erfordert schon den wahnsinnigen Verstand eines Thargunitoth-Paktierers.
Allen dämonischen Dienern der Thargunitoth ist gemeinsam, dass sie keine feste stoffliche Gestalt annehmen können, auch wenn manche wie der Braggu sich wenigstens sichtbar manifestieren und ihre Erscheinungsform auch durch magische Waffen zerstreut werden kann. Viele andere aber sind nur dann greifbar, wenn ein sterbliches Wesen von ihnen besessen ist.
Auch die Erzdämonin selbst nimmt niemals eine körperliche Form an, sondern erscheint dem Willigen wie dem Unwilligen nur in einem Albtraum – und es gibt wohl (außer Alveraniern wie Boron oder seinen Dienern) keine mächtigere traumschaffende Wesenheit in diesem Kosmos als Thargunitoth. In einem Traum ist ihre Gestalt nahezu beliebig, und in der nekrotischen Warunkei wird sie des öfteren als die ‘Skelettkaiserin’ dargestellt und verehrt, ein gekröntes Gerippe im vollen kaiserlichen Ornat, das auf dem rabenähnlichen Neungehörnten Nirraven reitet. Zweifellos hat irgendjemand dieses Bild in einem Traum gesehen, doch weit öfter erscheint Thargunitoth als atemberaubend majestätisch und schmerzhaft schön, mit schneeweißer Haut, dunklem Haar und blutvollen Lippen, so dass sie dort, auf eigenem Boden, sogar mit allen Darstellungen der gnädigen Marbo wetteifern kann. Ihr Siegel aber zeigt einen vielgehörnten Totenschädel ohne irgendeine Schönheit.
Ihr Reich in den Niederhöllen wird als eine leblose Ödnis voller Untoter und Geister beschrieben, die einander gierig verschlingen; im Herzen der Domäne aber erhebt sich die Schwarze Feste der Nacht, wo die Mehrheit aller gefallenen Seelen von der Seelenmühle zerstört werden.
So formlos wie ihre Diener in der Dritten Sphäre sind, so arm an Einzelgestalten und Legenden sind auch die Beschreibungen ihres Hofes – doch die Herrin der Nekromantie benötigt vielleicht gar keine beeindruckende Mythologie.
Zum Titel einer Präzentorin der Heulenden Finsternis sei noch angemerkt, dass Vielen gar nicht richtig bewusst ist, dass der erste Begriff aus dem kirchlichen Bosparano nichts anderes als ‘Vorsängerin’ bedeutet – die heulende Finsternis aber fügt sich zur Beschreibung aus dem Daimonicon, dass in der Niederhölle der Thargunitoth ein stetes Heulen, Kreischen und Zahngeklapper herrsche. Zusammen ergibt sich das unheimliche Bild der Erzdämonin, die mit ihren grauenerregenden Liedern als Einzelsängerin den Choral der Untoten anführt.
Das Daimonicon deutet nun auch an, dass Thargunitoth nur die Seelen in den Paradiesen Alverans wirklich in Frieden lassen muss, dass sie hingegen von Zeit zu Zeit die Möglichkeit habe, selbst aus den Hallen Borons in der Vierten Sphäre Totengeister zu rufen und in verfaulte Leichname einfahren zu lassen. Passend dazu gibt es inzwischen einige Hinweise, dass die Kulte der Thargunitoth seit Urzeiten danach streben, die Kontrolle über die Zitadelle der Geister an sich zu reißen, die irgendwo im Regengebirge liegen soll. Denn wie traditionelle Magierlegenden berichten, soll von hier aus ein Gradient durch die Ebene der Geister von der Dritten bis zur Vierten Sphäre führen. Den diesseitigen Zugang jener Verbindung in die Hände zu bekommen würde die Macht der Thargunitoth- Anhänger und ihrer Untoten erheblich verstärken. Möglicherweise stand der unheimliche Waldmenschenstamm der Wudu mit seinem Blut- und Todeskult nur noch kurz davor, von den Verheißungen der Thargunitoth unwiderruflich korrumpiert zu werden, als der Leichenblasse Nemeka ihnen den Glauben an Boron nahe brachte, wenn auch in einer sehr wilden, rauschhaften Form. So groß die berechtigte Kritik am weltlichen Agieren der Stadt Al’Anfa auch sein muss, es bleibt eine Tatsache, dass die Macht der dortigen Boronkirche eine wichtige Bastion gegen ein neuerliches Erstarken der Erzdämonin im Regengebirge ist. Doch auch die enorme Abscheu, die die Waldmenschenstämme allen Untoten und besonders dem gefürchteten Besessenheitshauch der Erzdämonin, dem Yaq-Hai, entgegenbringen, hat sicherlich mit früheren Ränken der Thargunitoth zu tun. Ich weiß aus Erfahrung, dass sie allen Verstorbenen sämtliche Öffnungen des Gesichtes sorgfältig verkleben oder vernähen, damit dort nicht Yaq-Hai eindringen und den verwesenden Leichnam als eine gierigen, erschreckend agilen Menschenfresser erheben kann.
Die zahlenmäßige Hochburg der aventurischen Nekromantie und damit auch des Thargunitoth-Wirkens ist aber zweifellos die Warunkei, wo der Herrin der Untoten offene Tempel errichtet und Friedhöfer und Boronsanger umgepflügt wurden, als die Toten ans Sternenlicht krochen. Die Beinschnitzerei ist hier eine blühende Handwerkskunst und viele Trinkschädel, Schmuck, Waffenzierat, Amulette und Beschwörerutensilien werden aus Menschenknochen hergestellt. ‘Thargunitoths Anger’ als das derzeit größte Insanctum der Herrin der Untoten liegt fraglos in der Warunkei, auch wenn lange Zeit nicht sicher war, ob in Warunk selbst oder dort, wo sich gerade das Heerlager des Endlosen Heerwurmes der Untoten befand, doch nach dessen Niederlage auf dem Mythraelsfeld scheidet letztere Option aus. Der etwa ein Dutzend verfluchter ‘Deuter Thargunitoths’ umfassende Nekromantenrat, der heute vom ‘Albtraumschloss der heulenden Finsternis’ auf dem Warunker Molchenberg aus das Land beherrscht, ist ohne Frage die größte Versammlung von Thargunitoth- Paktierern in ganz Aventurien.
In Warunk findet man auch Borbarads Totenrat, die Seelen von Gelehrten, die der Dämonenmeister in einer künstlichen Grotte in Trollschädel gebunden hat, auf dass sie ihm und seinen schwächeren Nachfolgern Rede und Antwort stehen oder grausige Alpträume ertragen müssen. Auf dem Molchenberg wurde das Magnum Opus der Nekromantie gewirkt, um den endlosen Heerwurm zu erwecken, und hier wird immer noch Nacht für Nacht der Thargunitoth gehuldigt und geopfert. Aus einer unvollständigen Beschreibung der Riten zum Magnum Opus der Nekromantie erfährt man dann auch, welche Umstände als besonders förderlich für Thargunitoth-gefällige Zeremonien gelten und wann man daher besonders mit nekromantischen Umtrieben rechnen muss, nämlich in den zwei von acht Wochen, wenn die Pforte Uthars geschlossen ist, auch außerhalb des fünften Monats, der dem Boron geweiht ist, und ebenso, wenn der Stern der Marbo nicht am Himmel steht.
Als nützliche Opfergaben und Kultinstrumente gelten entweihte Objekte aus den Tempeln des Boron und der Marbo, Teile von Toten aus entweihten Gräbern, ausgerissene Federn und Kadaverteile von schwarzen und weißen Raben, fleckenlose Obsidiane und kultische Geräte, die aus Blei, eher noch Knochenblei hergestellt wurden: Dieser Stoff ist weich wie Blei, aber bleichweiß und kann von Alchimisten leicht bestimmt werden.