Als noch kein Kampf geschlagen und kein Ding geschaffen war, trafen sich im endlosen Nichts zwei Häuptlinge. In einem von ihnen wohnte das Blut, im anderen der Geist. Und da es weder Waffe noch Werkzeug, weder Wissen noch Erinnerung gab, waren in. der Welt nur diese beiden Mächte. Da erkannte der zweite Häuptling die Macht des Blutes, da es so stark im Leib des anderen floss und diesen leben machte. Und da die Kraft seines Geistes ihn selbst nur sein, aber nicht leben machte, wollte er sie für sich gewinnen.
So ging er hin und schlug dem ersten Häuptling eine große Wunde, und dessen Lebensmacht vergoss sich. Da erkannte auch der sterbende Häuptling die Kraft, die ın seinem Blut wohnte, und brachte Geschöpfe daraus hervor. Der Häuptling des Geistes aber neidete ihm seine Schöpfung. Und um sie zu übertreffen, nahm er vom Blut seines Feindes und mischte es mit seinem Geist, und daraus gingen neue Geschöpfe hervor. Diese aber waren vom zweiten Blut gemacht, und mit dem Geist ihres Schöpfers wohnte eine maßlose Herrschsucht in ihnen. Dann entbrannte ein Krieg, und als der siegreiche Häuptling die Schwäche seiner Kinder erkannte, wandte er sich voll Verachtung von ihnen und der Welt ab.
Seit dem Kampf der beiden großen Häuptlinge sind viele neue Geschöpfe geschaffen worden, und viele davon haben wiederum eigene Geschöpfe hervorgebracht. In ihnen allen war und ist die Macht des Blutes; denn ohne Blut ist kein Leben. Doch nur jene, die geboren wurden, als sich der siegreiche Häuptling noch nicht abgewandt hatte und als die Lebensmacht des sterbenden Häuprlings noch nicht ganz verströmt war, wurden erfüllt vom gierigen Geist des Siegers und tranken darum vom Blut des Besiegten. Darum heißen sie Maruchk*, denn sie allein haben den Schweiß des ersten Kampfes und das Blut der ersten Wunde getrunken. Und darum können sie allein mit der Macht ihres eigenen Blutes neues Leben schaffen.
Viele Götter waren es, die in jener Stunde geboren wurden, Takhairrach** war einer von ihnen, und obgleich sein Blut jung war, war er doch alt im Geiste. Darum vermochte er vor den anderen Göttern. die Quelle der verströmenden Lebensmacht zu erkennen. Und da weder Erz, Stein noch Holz waren am Anbeginn der Welt, formte er sich eine Waffe aus schierem Licht. Er schwang die gleifiende Klinge wie eine Klaue, und mit 12 mal 20 Hieben drang er damit in die Brust des sterbenden Häuptlings ein, bis das Herz zuckend vor ihm lag. Er rıss es heraus, und ein Beben lief durch den Leib des Bestegten, als er es zerteilte und verschlang. Doch das Herz zuckt und blutet bis heute, und Takhairrach konnte nicht alles Blut trinken, das es in Unmengen vergoss. Darum floss viel vom Blut der zweiten Wunde .ın die Welt. Und so sind auch manche jüngeren Geschöpfe mit der Macht des Blutes gesegnet, obwohl ihr Blut von minderer Macht ist als jenes der ersten Wunde. Darum können sie keine neuen Geschöpfe erschaffen und werden Al’Maruchk*** genannt.«
—aus einer Erzählung von Sharraz Sichelklaue, Tatrach-Priester der Orichai
Die Orks hatten sich in den Zeiten des Reichs von Tarrakvash weit über den Kontinent ausgebreitet. So waren sie im gesamten Norden zu einem starken Volk gewachsen, das immer weiter nach Süden drängte — wo zu dieser Zeit die Echsenrassen Aventurien beherrschten. In Ostaventurien breiteren sich die Orks hinunter bis ins heutige Tobrien aus, im Westen stießen sie bis in die Regionen am Großen Fluss vor. Allerdings besiedelten sie keine festen Örte, sondern lebten vermutlich nomadisierend und ohne großen Zusammenschluss. Auch deshalb liegt nahe, dass die Hochkultur von Tarrakvash ın jenen Jahrtausenden erst am Anfang stand, den gesamten Kontinent zu erobern.
Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn die Orks wurden die vermutlich ältesten Zeugen der großen Eýszeit, die um 36000 vBF den aventurischen Norden heimsuchte. Das Ereignis, das den vorzeitlichen Beginn des orkischen Kalenders darstellt, nennen die Schamanen Terimoch Takharrrakhi, die Endlose Nacht des Blutenden Mondes, in der den Legenden nach der Gott Takhairrach von seinem Sohn Brazoragh geröter und zu Tairach wurde. Die Mythen berichten gleichsam von einem langen Krieg gegen geschuppte Völker und einer anschließenden Zeýt der Düsternis, die viele Tage währte und in der Kälte und Eis die Erste Welt — Tarrakvash — heimsuchten, Tatsächlich hatte damals der Gottdrache Pyrdacor in einem epochalen Ritual versucht, die Gestalt des Kontinents zu verändern. Diese Katastrophe muss die damalige Hochkultur der Orks inmitten ihrer Entfaltung vollständig in den Untergang gerissen haben — und es mag nur der Zähigkeit der Rasse zu verdanken sein, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht vollständig ausgelöscht wurde.
Unter dem Schein des Roten Mondes, so die Legenden weiter, wurden dýe überlebenden, stärkeren Orks von einem von Brazoragh gesandten Krieger in eine neue Heimat von weiter Steppe und kühlen Bergen geführt — Khazarrach, die Zweite Welt — von wo aus sie dereinst die Dritte Welt, Mochthrovak, erobern sollen…
Die Ursprünge des Orkischen Kalenders
Zwei Jahrtausende — also Große Jahre — hegen nach orkischer Zeitrechnung zwischen heute und der Endlosen Nacht des blutenden Mondes. Dies bedeutet in der Tat, dass die Ursprünge dieses Kalenders fast 37.000 Jahre (nach mittelländischer Zeitrechnung) zurück in der Vergangenheit liegen. Ein Zeitraum, der selbst den meisten menschlichen Gelehrten unvorstellbar erscheint.
Der exakte Beginn des Orkenkalenders allerdings kann nicht ohne weiteres errechnet werden; nur die Schamanen "Tairachs finden sich zurecht in den verklausulierten Legenden und bewahren das Wissen um Abweichungen vom Lauf des Mondkalenders. Untereinander erzählen sie von Nächten, in denen der Sternenhimmel in Aufruhr war, von Mondfinsternissen, die mehrere Nächte angedauert haben oder gar unterblieben sind, von aufeinanderfolgenden Nächten, die nicht durch Tageslicht unterbrochen wurden, oder von Tagen, in denen die Sonne nichtunterging und der Mond nicht aufstieg. Ereignisse, die auch im Mondkalender Berücksichtigung fanden. Mehr zum ‚Orkischen Mondkalender finden Sie auf Seite 102.
In diesen Zeiten größter Entbehrung und Naturgewalten konnten nur die stärksten und zähesten Orks die nächsten Jahrtausende überleben. Die Traditionen ihrer Vorfahren hatten sie verloren, das Leben war bestimmt von Hunger, Tod und brutalem Überleben. Vielleicht unter der Führung des ersten Arkar Brazoraghs — des Gesandten des neuen Gottes des Krieges und des Kampfes — behaupteten sich die letzten Orks gegen alle kommenden Widrigkeiten. Nicht nur in den Überlieferungen war deshalb auch der alte Gott Takhäirrach “ins Eýs gegangen" (verblieben in der Vergangenheit, der Zeit vor der Katastrophe, verbannt in cine Totenwelt ohne (große) Veränderungen ), während Brazoragh der Gott der neuen Zeit und des Überlebens im Hier und Jetzt werden musste.
In ihrem letzten Refugium, dem Orkland, erstarkten die Orks in den kommenden Jahrtausenden unter dem Banner Brazoraghs erneut und begannen vor dort aus, wieder größere Lebensräume im vor allem vom Volk der Goblins bewohnten Nordaventurien zu erschlieben. In der Schlacht des Mondfeuers gelang es den Orks, die zahlenmäßig überlegenen Rotpelze im Svellttal zurückzuwerlen. Aus den Knochen der erschlagenen Feinde türmten die Sieger den Legenden nach einen so. hohen Feuerberg auf, dass der Mond selbst in Flammen geriet und fünf Nächte lodernd am Himmel stand. Von dieser Macht beeindruckt, sollen sých die Goblins den Orks unterworfen haben, sodass beide Völker in den kommenden Jahrtausenden den Norden des Kontinents — von der Region der heutigen Königreiche Nostria und Andergast über die Salamandersteine bis hinein ins Bornland — dominierten.
In den Hohen Norden mit seinem ewigen Eis wie auch zu den südlich gelegenen Grenzen der Echsenreiche drangen die Orks jedoch zu jener Zeit nicht vor — von vereinzelten wagemutigen oder ausgestoßenen Kriegern einmal abgesehen. Doch eine neue bedrohliche Macht entstand in jener Zeit mitten in den eroberten Lebensräumen…