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Der Holzanhaenger

„Liasanya“, flüsterte der Herbstwind ihren Namen. „Liasanya“, raschelte das brusthohe Gras. Umgeknickte Grashalme, beiseite gedrängt von den Reitschweinen der Rotpelze, wiesen ihr den Weg durch die kalte Steppe.

Seit drei Jahreszeiten waren die Rotpelze ihrer Sippe nicht so nahe gekommen, und in ihren vierzig Lebensjahren hatten sie noch nie ein Kind entführt.

Sie warf einen Blick über die Schulter und hinter ihr, verschmolzen mit den mondhellen Schatten der Steppe, stand Neijala. Die Stute blieb zurück, doch als Liasanya einen Schritt vortrat, trabte das Pony weiter.

Der Wind zerrte an Liasanyas langen Haaren, drängte sich in ihren Rücken. „Rette den Abendsang“, wehte es in ihr, trieb sie voran, bis sie in der Ferne ein gelbes Licht sah.

Die Steppe kannte keine Dunkelheit, keine tiefen Schatten, in denen Gefahren lauern konnten. Aber die an das Licht des Lagerfeuers gewöhnten Augen der Rotpelze würden sie zu spät bemerken. Viel zu spät.

Sie umkreiste das Lager, bis der Geruch nach gebratenem Schweinefleisch an ihre Nase drang. Der Wind stand richtig.

Am Lagerfeuer hockte ein Rotpelz und leckte sich über die vorstehenden Zähne, während er mit einem Dolch im Fleisch stocherte, das über den Flammen briet.

Ein zweiter stand in den Schatten hinter dem Feuer und grunzte. Der Lagerfeuerrotpelz grunzte zurück und reckte den Hals, um am Feuer vorbeizusehen. Liasanya duckte sich tiefer ins Gras. Als sie weder einen Aufschrei noch Schritte hörte, hob sie wieder den Kopf und suchte nach Odania.

Die Zwölfjährige saß an einen Schatten gefesselt und starrte mit hoch erhobenem Kinn einen dritten Rotpelz nieder. Das rote Fell des Weibchens war von Grau durchzogen und es trug eine Kette aus Zähnen, deren größter zwischen den schlaffen Brüsten hing. Es reckte eine Rassel über den Kopf und zischte und schnaufte, stieß mit einem Fuß auf, dann mit dem anderen.

Liasanya nahm den Bogen in die linke Hand, drei Pfeile aus dem Hüftköcher in die rechte, legte an, spannte die Sehne und ließ den Pfeil vom Atem der Steppe an sein Ziel tragen. Noch ehe er sich in den Kopf des rasselnden Rotpelzes grub, huschte sie durch das Gras.

Ein dumpfer Aufprall. Ein lautes Grunzen. Hektik im Lager. Ein zweiter Pfeil bohrte sich in rotes Fell, bevor das Männchen die Stelle erreichte, von der sie den ersten geschossen hatte. Sie rannte weiter, aber niemand folgte ihr. Sie warf einen Blick über die Grashalme. Der zweite Rotpelz stand beim Weibchen und half ihm auf. Es schwang die Rassel und grunzte bedrohlich. Der Pfeil ragte ihm aus dem Schädel.

Liasanya legte an und schoss erneut auf das Weibchen. Doch das Männchen riss eine Keule hoch und schlug den Pfeil beiseite. Sie erhaschte einen Blick auf elfische Armschoner, dann zeigte das Weibchen mit der Rassel auf sie und der Rotpelz rannte los.

Keine Zeit für neue Pfeile. Sie riss die Hand hoch, ballte die Faust und stieß zu. „Fial miniza dao’ka.“ Wie ein Sturm entriss sich ihr der Schlag. Mit einem Schmerzensschrei ging der Rotpelz zu Boden. Liasanya nahm das Schwert aus der Scheide, lief zum Männchen und stieß ihm die Klinge ins Herz.

Das Weibchen schrie markerschütternd auf und der Boden unter ihr bebte. Ein stechender Schmerz fuhr ihr in die Seite und sie stürzte zu Boden.

Der letzte Rotpelz stand tobend vor ihr. Liasanya hob die linke Hand. „Bha’iza dha feyra.“ Das Weibchen schlug sich die Hände vor die Augen und taumelte zurück. Das Beben unter Liasanya ließ nach und sie kam schwankend auf die Beine, aber als sie einen Schritt nach vorne tat, knickte ihr Knie ein, als stünde sie auf dem Rücken eines wild galoppierenden Ponys.

Der Rotpelz wirbelte herum und rannte mit den Armen um sich greifend in die Nacht hinaus. Dann hörte sie das Quieken von Schweinen und das Trampeln schwerer Beine.

Sie atmete tief ein, saugte den Steppenwind in ihre Lungen, drängte ihn in die Beine, bis sie nicht mehr zitterten. Dann folgte sie dem Weibchen. Zwei fette Säue standen außerhalb des Lichtkegels. Unter dem sternenklaren Nachthimmel sah sie eine Schneise im Steppengras, die von einem dritten Reitschwein geschlagen worden war. Eine Brise trieb ihr einen säuerlichen Geruch an die Nase, weitere Rotpelze, nicht weit von hier.

Sie ging zu Odania und sah schließlich, woran das Kind gebunden war. Ein zweites Mädchen mit runden Ohren, kaum älter als Odania, kauerte hinter ihr und wimmerte leise. Sie steckte das Schwert ein und zog ein Messer aus dem Stiefel, um die Fesseln der Kinder durchzuschneiden. Dann pfiff sie nach Neijala und half Odania auf die Beine, ehe sie nach ihren Pfeilen suchte. Sobald Neijala im Lager war, hob sie das Mädchen auf den Rücken des Ponys.

„Bist du verletzt?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Was ist mit ihr?“, fragte Odania.

„Darum können sich die Rosenohren kümmern.“ Sie wollte hinter Odania auf das Pony steigen, als ihr Blick auf die hellen Augen des Mädchens fiel. Es hatte den Blick auf das Rosenohrenkind gerichtet und biss sich auf die Unterlippe. „Wir können sie nicht hierlassen. Sie hat genauso viel Angst wie ich.“

„Odania“, setzte Liasanya sanft an. Die Rosenohren wurden allmählich zu einer Plage, ähnlich wie die Rotpelze. Sie verließen die Wege und drangen tiefer in das Gebiet ihrer Sippe. Bald schon würden auch sie ihnen die Ponys stehlen und ihre Siedlungen vernichten. Sie schüttelte den Kopf, aber Odania legte ihr eine Hand auf die Brust.

„Ihr Name ist Huldja“, sagte sie. „Ihre Sippe lagert nicht weit von unserer.“

Liasanya sah ihr fest in die Augen. „Wenn ich sie mitnehme, trägst du für sie die Verantwortung.“

Odania nickte ernst. „Ich weiß.“

Liasanya drehte sich um und ging zu dem Rosenohr. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren und dem rasierten Mittelscheitel schrak vor ihr zurück. Sie hockte sich hin und streckte dem Kind eine Hand entgegen, als würde sie sich einem verängstigten Pony nähern. „Gut“, sagte sie in gebrochenem Alaani. „Ich helfe.“

Das Mädchen hob das tränenüberströmte Gesicht, und als es erkannte, dass Liasanya ihm nichts tun wollte, plapperte es aufgeregt los. Liasanya verstand nur „Mailam Rekdai“, den Namen der Rotpelz-Göttin, aber sie schüttelte den Kopf und das Kind verstummte. Schließlich nahm es ihre Hand und ließ sich auf die Füße ziehen.

Aus der Ferne hörte Liasanya lautes Trampeln. Sie hockte sich hinter Neijala und rieb sanft mit der Hand über den Boden. „Sa’biunda la dha’ra la fey’dha la – lass meine Spuren schwinden.“ Sanft wehte die Kraft in den Boden. Dann griff sie Huldja unter die Arme, setzte sie auf Neijalas Rücken und schwang sich hinter das Kind. Die Stute stemmte die Hufen gegen den Boden und galoppierte wie auf den sieben Winden in die Nacht hinaus.

Sie ritten mit dem Wind, getragen vom Wind, durchdrungen von seinem Gesang, bis Liasanya das Trampeln nicht mehr hörte. Sie atmete auf und ein stechender Schmerz durchzog sie. Dunkle Wärme kroch ihr durch die Finger, als sie sich die Seite hielt. Sie wollte Kraft in die Wunde schicken, sich stärken, bis sie zurück in der Sippe war, aber der Sturm in ihr war zu einem Säuseln versiegt. Sie biss die Zähne zusammen und ritt weiter.

Als sich der Himmel über ihnen grau färbte, erkannte Liasanya in der Ferne die ersten Wagen der Rosenohren. Stimmen drangen aus dem Morgengrauen, mischten sich mit dem Gesang der Steppe.

Liasanya ließ sich vorsichtig vom Rücken des Ponys gleiten und setzte Huldja auf den Boden. Dann zeigte sie in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. „Dort“, sagte sie auf Alaani. Huldja nickte, drehte sich aber nicht um. Stattdessen steckte sie die Hand unter den Pelzbesatz ihres Mantels und zog sich ein Lederband über den Kopf. Dann streckte es die Hand aus und murmelte: „Danke.“ Auf der Handfläche lag ein aus Holz geschnitztes Pferd.

Liasanya nahm den Anhänger entgegen und sagte in ihrer eigenen Sprache: „Möge der Wind dich auf deinen Wegen begleiten.“ Huldja erwiderte etwas, von dem Liasanya nur die Wörter „Biene“ und „Honig“ verstand. Sie nickte, zog sich hinter Odania auf Neijalas Rücken und ritt davon.

„Möge der Honig der Biene nie versiegen“, murmelte Odania. Sie drehte sich zu Liasanya. „Danke, dass du Huldja auch gerettet hast.“

Liasanya betrachtete den Anhänger. Es war eine grobe Schnitzerei, aber das dickbauchige Tier erinnerte sie an Neijala. Sie legte sich die Kette um den Hals.

Die Melodie der Steppe hatte sich verändert.

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Язык: Deutsch | Категория: Fangeschichte | Автор: DayaWritesCoffee | Дата: 16.05.24 | Просмотров: 337 | Отзывов: 0

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