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Vergänglichkeit und Versuchung – Ketzer, Sekten, Randkirchen

Auch in Aventurien gibt es neben den großen Kulten eine Unzahl kleinerer – und viele davon muten dem gemeinen Aventurier überaus seltsam an (wenn er überhaupt je davon gehört haben sollte). Lassen Sie sich insofern von den folgenden Informationsfluten nicht verunsichern, sondern nehmen Sie sie vielmehr bei Bedarf als Inspirationsquelle.

Ketzer, Häretiker, Apostaten

»Ketzer aber sind jene, die I. falsch sind im Denken und irren darin, wie sie denken; die II. bei ihrem Denken im Glauben irren oder darin irren wider die göttliche Ordnung; die III. gläubig sind und zu den Zwölfgöttern beten, denn sonst sind sie Heiden und Ungläubige und keine Ketzer; die IV. dergestalt irren, dass sie nicht ganz dem Glauben abtrünnig sind, denn sonst sind sie Apostaten; und V. auf ihrem Irrtum beharren und verstockt sind nach freiem Willen.«
—aus der Inquisitorischen Halsgerichtordnung der Praios-Kirche

Ein Ketzer ist ein Angehöriger einer Religion, die in bestimmten Fragen des Glaubens von einer als orthodox (‘rechtgläubig’) angenommenen Lehre abweicht, sich ihr in großen Teilen aber noch immer zugehörig fühlt. Dabei ist Ketzerei nicht auf den Zwölfgötter-Kult beschränkt, wie in der Priesterkaiserzeit in der Inquisitorischen Halsgerichtordnung definiert, sondern kann sinngemäß auch bei gänzlich anderen Glaubensrichtungen vorkommen. Die Bezeichnung ‘Heterodoxie’ für eine solche abweichende Glaubenslehre ist wenig verbreitet.

Einen Schritt weiter gehen Häresie (aus dem Aureliani: Auswahl) und Apostasie (aur. Abfall vom Glauben). Häretiker leugnen große Teile einer orthodoxen Lehrmeinung zugunsten einer anderen oder folgen einer komplett anderen in einzelnen Glaubenswahrheiten, wie es zum Beispiel bei der Magierphilosophie der Fall ist. Apostaten hingegen sind Abtrünnige, die sich von der Religion ihrer Geburt oder Kultur, gar ihrer Weihe, abwenden, um gänzlich anderen Glaubenssystemen zu folgen oder sogar die karmalen Kräfte zu leugnen; Dämonenanbeter werden hierzu gezählt, aber auch ehemals Zwölfgöttergläubige, die nun Rastullah folgen.

In einer Sekte schließen sich Ketzer oder Häretiker zusammen und bilden damit eine religiöse Gruppe, die sich von ihrer Hauptkirche getrennt und eine eigene Lehre entwickelt hat. Im einfachen Sprachgebrauch werden aber auch fremd- und freireligiöse Gruppen als Sekten bezeichnet.

Ketzertum und Häresie im Zwölfgötter-Kult

Seit dem Aufkeimen des menschlichen Kultes um das Pantheon der Zwölfgötter (also im Endeffekt seit dem Silem-Horas-Edikt) haben sich zahlreiche religiöse Strömungen und Glaubensgemeinschaften entwickelt und sind wieder untergegangen. Einige ehemalige Sekten haben ihre Anerkennung erfahren und Eingang in den Kanon gefunden, manche alte Lehre dagegen ist dem Wandel der Zeiten nicht gefolgt und ist mittlerweile von den Kirchenlehren weit entfernt. In den Kirchen mit ausgeprägten Hierarchien (z.B. Praios oder Rondra, nicht aber Firun oder Tsa) gilt ein neu gegründeter Orden zudem so lange als eine Sekte, bis er und seine Ordensregeln vom jeweiligen Kirchenoberhaupt bestätigt werden.

Die größeren Kulte um Horas, Simia, Mada und die Hohen Drachen, die teilweise auch offiziell von den Kirchen anerkannt sind, werden in eigenen Abschnitten vorgestellt. In allen zwölf Kirchen als Häresie berüchtigt ist die Vermischung mit Aspekten des jeweiligen erzdämonischen Widerparts. Auch die Verehrung von Heiligen endet gelegentlich in echter Anbetung.

Nicht nur im Umfeld des Glaubens an Rur und Gror, der im Zwölfgötter-Kult als Sekte gerade noch geduldet ist (und sich in zahllose weitere Splittergruppen teilt), ist der Dualismus bekannt. Auch der traditionelle tulamidische Dualismus teilt das Pantheon in Gegensatzpaare und wirkt bis nach Almada. Manche Jünger Rohals beten gar zu den kosmischen Prinzipien Nayrakis und Sikaryan, ohne den ‘Umweg’ über die Götter zu machen. Der im Svellttal und Teilen Andergasts verbreitete Lowanger Dualismus mit seinen ebenso fleißigen wie prüden und konservativen Gläubigen sieht Praios als Patron allen Glücks, Lichts und des Guten, während Boron (bisweilen stattdessen auch Phex) als Herr der Finsternis das Böse darstellt. Das übrige Pantheon genießt kaum Verehrung und wird allenfalls als Vasall der beiden Herrscher dargestellt. Die strenge Moral wie auch das Pantheon sind seit dem Orkensturm im Wandel begriffen, die Dualisten sehen ihren Glauben auf die Probe gestellt.

Ebenfalls vor allem im maraskanischen Umfeld bekannt ist der Synkretismus (aur.: Verschmelzung), in dem mehrere Götter als verschiedene Gesichter einer einzigen Gottheit betrachtet werden. Am bekanntesten sind hier Boron / Tsa in einigen maraskanischen Lehren, Boron / Firun in nördlichen Regionen, Rondra / Efferd als eine Wettergottheit sowie verschiedene Kombinationen aus Travia, Tsa, Peraine und Rahja in südlichen Gegenden. Gerade unter satuarischen Einflüssen vermischen sich Tsa und Satuaria zu ‘Tsatuara’.

Sonnenkulte kennt man im Norden, wo man das schwache Funzeln stärken möchte, ebenso wie im Süden, wo die Hitze gelindert werden soll. Die frommfanatischen Jilaskaner, Abkömmlinge der verbannten Priesterkaiser, betonen Gnade und Milde des Götterfürsten immer wieder, sofern der Frevler aufrichtig bereut und sich in der Sonnenglut schonungslos läutert. Eine Jerganer Splittergruppe verehrte Praios vor allem als Herrn der Sonne und Hitze und brachte Menschenopfer dar; über das heutige Schicksal des Zirkels ist nichts bekannt. Auf dem schmalen Grat zwischen Erleuchtung und Ketzerei wandern die Sonnenleser, die angeblich so lange in die Sonne starren, bis sie erblinden.

Zahlreiche Blut- und Todeskulte flackern vor allem in den Kirchen von Rondra und Boron immer wieder auf, werden aber zumindest vom Rondra-Kult meist rasch mit dem Schwert wieder ausgemerzt, sofern ihre Ansichten nicht tragbar sind. Einige Famerlor-Sekten sind todessehnsüchtig in Schlachten untergegangen, während die Schnitter im Weidener Land seit der Kaiserlosen Zeit grausamen Riten und ihrem Blutdurst folgen und nichts mehr mit rondrianischen Ehrbegriffen gemein haben, vielmehr scheint die Sekte orkisch beeinflusst. Seit den Schlachten um das besetzte Tobrien kommt an den Fronten der Walkür Mythrael zu immer größerer Verehrung, damit die Gefallenen in Rondras Hallen Einzug halten können und nicht der Verdammnis anheim fallen. In den Mythraeliten hat sich um den Erz-Alveraniar ein richtiger Götterkult entwickelt, der die Mutterkirche zunehmend vernachlässigt und von ihr gerade noch toleriert wird.

Aus der Bewegung der Nemekathäer in den Dunklen Zeiten ist der Al’Anfaner Ritus des Boron-Glaubens hervorgegangen, der den Puniner Ritus ebenso als Sekte ansieht wie umgekehrt. Die Drôler Fraternitas Uthari gilt als borbaradianischer Zirkel, wird gelegentlich aber auch Sekte genannt, die Uthar als den Bringer des Todes noch über Boron stellt, da dieser lediglich das Totenreich bewacht, und ihm Seelen zum Tausch gegen andere anbietet. Die Rethonier glauben, dass Dere in Wahrheit das Totenreich ist und alle Neugeborenen just zuvor in einer anderen Welt gestorben sind, während die nicht organisierten Uthariten die Seelen der Sterblichen vor den Dämonen retten wollen, indem sie möglichst schnell alle potenziell Gefährdeten umbringen. An manchen Orten Südaventuriens ist für Boron noch der Name Visar gebräuchlich, und gelegentlich leben eigene, bizarre Verehrungsformen auf, wie zuletzt in den kurzlebigen Visaristen in Nostria, die Visar als Vater aller Götter in hymnischen, fröhlichen Gesängen priesen. Rätselhafter ist der Kult um V’Sar, den unfehlbaren Herrn der Seelen, der schreckliche und blutige Menschenopfer abhalten und Attentate verüben soll und wohl auf die echsische Verehrung des Seelenraben zurückzuführen ist. Nach der Seuche des Roten Todes in der Königsmark Drôl hat sich in den Khedionen (benannt nach Khedio, einem Geweihten der Peraine-Kirche) eine häretische Gruppe gebildet, die ansteckende Krankheiten als Peraines Strafen für ihre Frevel ansieht und solcherart erkrankte Menschen zu unbekannten Orten bringt, um sie dort sterben zu lassen.

Weit verbreitet, häufig auch geduldet ist die Verehrung der Elemente und Naturgewalten, häufig als Teil des jeweiligen Gottes. So findet Firun in vereisten Regionen Anbetung als Wintergigant, während die Sieben oder Zwölf Winde als eigenständige Gottheiten gesehen werden. Zur Erdriesin Sumu wird noch heute in Andergast, Nordmarken und Tobrien gebetet. Im nördlichen Thorwal werden Moore als lebendig verehrt und mit Opferungen von Kindern besänftigt, während der Stiergott Razorag das tobende Schneegewitter schickt. Im Norden wie im Süden kennt man die Verehrung von Baumriesen. Geradezu personifiziert wird der Große Fluss, der insbesondere in Albernia mit der mythischen Gestalt des Flussvaters gleichgesetzt wird; von Yaquir, Born und Mhanadi sind ähnliche Verehrungsformen bekannt. Auf den Zyklopeninseln findet man die Jünger des Thylos, die Efferd vor allem als Herrn der versiegenden Flüsse zu besänftigen suchen. Als Herrin vom See wird im Windhag die Fee Thalaria als Götterkind verehrt, deren Bergsee aus einer Träne Efferds entstanden sein soll. Auch von Ferkinas und Trollzackern ist bekannt, dass sie Quellen als heilige Orte verehren. Im Lieblichen Feld bis hinauf nach Gareth kennt man die Feuersinger, die zu Ehren Ingerimms immer wieder Brände legen und deren Löschung zu verhindern trachten. Im Raschtulswall steht ein Kloster, dessen Bewohner dem Feuer der Leidenschaft frönen und sich Wanderern ebenso hingeben wie Drachen und anderen Wesen. Eine apostatische Sekte auf den Zyklopeninseln verehrt die Lavaseen und betet zu einem obskuren Flammengott in Gestalt eines Feuersalamanders, von dem sie sagen, er sei der eigentliche Herr des Feuers und von Ingerimm und Travia entmachtet worden. Um gefallene und gefesselte Giganten haben sich ebenfalls eigenständige Kulte gebildet, beispielsweise in den Sichel-Gebirgen und dem Raschtulswall, und nicht nur Barbarenvölker verehren Riesen und Trolle als Götterkinder (was aber nicht heißt, dass man ihnen nicht auch im Kampf begegnen kann), ersteren werden mancherorts Menschenopfer dargebracht.

Im Kult der Tsa gibt es keine Ketzerei per definitionem, sondern nur ‘neue Ideen’ mit zum Teil widersprüchlichen Philosophien, die gelegentlich sogar Gewalt billigen. Wenn Gläubige zu sehr an der Grenze zum dämonischen Chaos wandeln, ist aber auch hier keine Duldung zu erwarten, während selbst Meuchlersekten, die ‘ausgewählten Opfern zur Wiedergeburt verhelfen’, nicht zwangsläufig der Häresie verfallen sind.

Der Tsa-Kult und auch die wandelbare Hesinde-Kirche, ohnehin Brutstätten ketzerischer Ansichten und freidenkerischer Sekten, kennen Vertreter der verbotenen Demokratie, eine von der angenommenen Gleichheit aller Menschen (seltener: aller beseelten Lebewesen) vor den Göttern ausgehende Staatsphilosophie, die das Glück der Menschen in der Selbstbestimmung sieht. Während der einflussreiche Bund der Freidenker (Verbrüderung, Gleichheit und Freiheit im Weltgesetz) aus dem Lieblichen Feld gerade noch geduldet wird, wurde die Sekte von Ilaris (Zurückweisung von Götterfurcht; über Verstandeskraft zu einem Begreifen der Welt und der Göttlichkeit gelangen) vor über 200 Jahren verboten und mit unnachgiebiger Härte ausgelöscht – ihr Gedankengut führt aber bis heute immer wieder zum Aufflackern neuer Gruppen von Ilaristen.

Die Kirche der Peraine kennt die mittelreichischen Ackerteiler, denen zufolge Saatgut, Ackerflächen und Getreidefelder niemandem gehören und die schon mal mit Waffen eine Umverteilung an die Ärmsten fordern.

Eine obskure Sekte betet zum mysteriösen Pantheon der Neugötter, das die Zwölfgötter niedergerungen haben soll. Andergast und Nostria waren nicht vom Silem-Horas-Edikt betroffen und verehren gerade im Hinterland noch unterschiedliche Pantheons aus diversen Göttern, Heiligen und Naturgewalten. Nicht nur in Fasar wird noch heute zu den urtulamidischen Stadtgötzen gebetet, vor allem in Thalusien haben die alten tulamidischen Götter noch immer ihren Platz. Wo Praios in den mhanadischen Steppen noch als Dämon der Dürre verabscheut wird, verehrt ihn der machtbetonte Kult der thalusischen Gutsherren als gnadenlosen Herrscher. Allen Himmels- und Erdmächten werden Rinder, Angehörige und Sklaven geopfert; zu Ehren des schwarzen Stiergottes Ras’Ragh (Kampf, Potenz, Viehherden), der roten Kuhgöttin Peradschaja (Hingabe, Fruchtbarkeit, Ackerbau) und ihrem goldenen Kalb Rascha (Liebe, Vergnügen, Mitleid) veranstaltet man blutige Stierkämpfe. Die grausame Marhibo (Tod, Wahnsinn, Visionen) soll mit Praios Mha’Qasha gezeugt haben, die als Schutzpatronin der Gemeinschaft Verehrung findet und deren Lehren besagen, dass das einfache Volk seinen Herrschern zur Not mit dem Leben dienen muss. Einige weitere Gottheiten wie Al’Mahmoud (Zeit, Wandel, Vergänglichkeit), Efferd (Wasser, Schifffahrt, Fischfang), der bis in die südlichen Dschungel bekannte Affengott Tuur-Mhakaq (Wildnis, Hinterlist, Jagd), Feqz (Mond, Nacht, Magie) und Aves ibn Feqz (Handel, Reise, Grenzen) komplettieren das thalusische Pantheon. Von vielen anderen tulamidischen Götzen kennen wir kaum mehr als die Namen, die auf alten Steinsockeln genannt werden, darunter: Baar, Shelaq, Ankhatep, Tarisha, Urush, Sholvor, Bul’Atba, Gharut, Shelhezan. Andere tulamidische Glaubensrichtungen (insbesondere auch in Thalusa) haben Rastullah in ihr Pantheon integriert, mal als eigenständige Wesenheit, mal als Avatar des Giganten Raschtul. Die Hadjiinim, Ordenskrieger, die zurückgezogen in Bergklöstern leben und einen urtümlichen Moralkodex bewahrt haben, gelten als Hort solcher synkretistischen Lehren.

Eine weitere Darstellung tulamidischer Glaubensvermischung finden Sie im Band Land der Ersten Sonne auf den Seiten 96f.


Язык: Deutsch | Категория: Beitrag | Дата: 17.05.24 | Просмотров: 60 | Отзывов: 0

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