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Die Himmelswölfe

Die Steppennomaden verehren die Himmelswölfe (Nujuka: Manikku) als höchste Götter. Regelmäßige Gottesdienste, in denen sie angebetet werden, kennen die Nivesen nicht; allerdings werden die göttlichen Wesen bisweilen um Beistand angerufen. Ansonsten versucht der Schamane, ständig eine Verbindung zu ihnen zu halten. Er erkennt die Zeichen, die sie geben, und ihm obliegt deren Interpretation, seien es nun Besonderheiten im Verhalten der Karene, auffällige Moosfiguren an Bäumen oder Wolkenbilder.

Oftmals sind Wölfe die Überbringer göttlicher Botschaften. Lediglich zu Beginn und am Ende der Wanderungen im Frühling und Herbst werden den Himmelswölfen in einer Zeremonie Opfer dargebracht: Karene oder erjagtes Wild. Der Schamane bittet um Schutz für die bevorstehende Reise, oftmals verbunden mit einem Opferversprechen, das nach der sicheren Ankunft eingelöst wird. Wie sehr die Nivesen die Himmelswölfe fürchten, zeigt sich in einigen Eigenarten, von denen wir nicht wissen, ob sie tatsächlich nur ins Reich des Aberglaubens gehören. So ist für die Steppennomaden der Nordstern das Auge Liskas, das die Menschen vorwurfsvoll anstarrt. Auch fürchten die Nivesen die alljährliche Annäherung des Madamals an das Sternbild des Ogerkreuzes im Frühling und Sommer, und sie raten, bei Vollmond nichts anzufassen, das zerbrechlich ist. Auch die Handlesekunst ist nivesischen Ursprungs und dient bei den Nomaden dazu, festzustellen, wie nahe eine Person mit Mada verwandt ist.

Im folgenden verwenden wir die gebräuchlichen garethischen Namen der Himmelswölfe; die nivesischen Namen sind in Klammern nachgestellt.

Gorfang (Goauan), der Rudelführer, wird höchst selten angerufen. Er verkörpert Herrschaft und Rache und wird meist dann bemüht, wenn letztere geübt werden soll. Ein Mord ist für den Nivesen ein fürchterliches, unvorstellbares Verbrechen. Im rauen Norden ist ein Leben zu kostbar, als dass man es einfach opfert. Eine solche Untat kommt selten vor, und man kennt für sie auch keine angemessene Strafe. So bitten manchmal die Hinterbliebenen des Opfers Gorfang, den Mörder zu bestrafen. (Nebenbei bemerkt, ein Mord kommt bei den Nivesen zwar seltener vor als bei jedem anderen Volk Aventuriens, er ist aber dennoch häufiger, als manch einer annehmen mag. Oft, wenn es keine Zeugen gibt, kann sich der Täter damit herausreden, dass der Getötete ein Opfer wilder Tiere wurde. Dem Mörder schenkt man in der Regel Glauben, da man ihm solch eine grässliche Tat nicht zutraut.) Bisweilen soll Gorfang die Menschen heimsuchen, wenn sie sich an seinen vierbeinigen Schützlingen vergangen haben. Allerdings gibt es bisher keinen Überlebenden, der davon berichten könnte.

Grispelz (Griekii) ist Gorfangs Gemahlin. Man kann also getrost annehmen, dass beide jenes mythische Wolfspaar, Urvater und Urmutter, sind, die einstmals die ersten Wölfe und Menschen geboren haben. Alle anderen Himmelswölfe sind Kinder der beiden. Grispelz ist gewissermaßen ‘die gute Seele’ des Rudels und kümmert sich aufopferungsvoll um die Ihren. Für die Nivesen symbolisiert sie zudem Fruchtbarkeit.

Reißgram (Rieinan) ist ein geschickter Jäger und wird dementsprechend um Jagdglück angerufen. Wer sich an Reißgrams Gesetz hält, dem soll reiche Beute gewiss sein. Sein Geschick wird auch bei Handwerksarbeiten erhofft.

Rotschweif (Rokjok) hingegen ist sehr schlau. “Der gehört auch nicht zu Rotschweifs Rudel” ist eine nivesische Redewendung und umschreibt einen ausgemachten Dummkopf. Rotschweif möchte gerne die Herrschaft seines Vaters brechen, doch dessen rohe Kraft konnte seinen Machtanspruch bisher erhalten. Wenn im Sommer die für den Norden typischen, schweren Gewitter über das Land ziehen, streiten sich nach Ansicht der Nivesen Vater und Sohn.

Firngrim (Fienjei) mit dem weißen Pelz ist die Wintermutter; sie lässt durch ihren kalten Blick Wasser zu Eis erstarren und überzieht jedes Jahr im Herbst das Land mit einer dicken Schneedecke. Der Bruch zwischen Menschen und Wölfen hat ihr Herz zu einem kalten Eisblock werden lassen. Führt sie nun das Regiment, ist sie hart und unerbittlich. Wer sich nicht rechtzeitig gegen den Winter wappnet, der überlebt ihn auch nicht. Wie ihr Vater kennt Firngrim keine Gnade. Der Winter ist für die Nivesen gewissermaßen gleichbedeutend mit Tod (in der nivesischen Sprache gibt es für beides gleichlautende Wörter). Oftmals ereilt das Schicksal gerade im Winter die Schwachen und Greise. Viele Jäger kehren in der kalten Jahreszeit nicht mehr heim. Schon eine harmlose Verletzung, die jemanden dazu zwingt, nur kurze Zeit an Ort und Stelle auszuruhen, kann den Tod durch Erfrieren bedeuten. Wenn ein Nivese im Sterben liegt, sagt man, dass er Firngrim heulen hört.

Ihre Zwillingsschwester Arngrim (Fianjei) weckt aber jedes Jahr im Frühling das Land aus seinem Winterschlaf. Sie gebietet im Peraine oder Ingerimm der Wintermutter Einhalt, und ihr warmer Atem taut das Eis und haucht den Pflanzen neues Leben ein. Ihr gelten Gebete in harten Wintern, während Firngrim eigentlich nicht angerufen wird.

Liska (Lieska) ist die Mittlerin zwischen Wolf und Mensch. Zum Glück für die Nivesen ist sie auch Gorfangs Lieblingskind. Ihr Herz ist voller Milde, und sie konnte ihren Vater schon manches Mal besänftigen. Bisweilen wandelt sie sogar durchs Land, dabei wählt sie oft die Gestalt einer schlanken, zierlichen Wölfin. Somit ist sie zunächst nicht von den gewöhnlichen Wölfen zu unterscheiden. Tritt man ihr allerdings gegenüber, wird man bald ihres göttlichen Wesens gewahr.

Erwähnenswert sind auch noch Rangild (Raaukjo) und Rissa (Rijaaissa), die ewig Liebenden, die das Pendant zur Zwölfgöttlichen Rahja darstellen. Unter ihrem Zeichen werden gewöhnlich nivesische Ehen geschlossen. Ebenso genannt seien Tongja (Toauja), die Schönheit und Anmut verkörpert, oder der verspielte Ranik (Ruanjik), der die Sonnenscheibe über den Himmel rollt.

Erst vor einigen Sommern erwachte Graufang (Garjouan) aus seinem Äonen währenden Schlaf. Schmerz und Trauer ließen ihn einst wüten, woraufhin Gorfang und Grispelz großen Schlaf über ihn brachten und seinen Körper unter Fels begruben. Seine Rückkehr wird von vielen Nivesen als ein Zeichen großen Wandels gesehen, wobei die Meinungen darüber, ob Graufang Hoffnung oder Unheil bringt, auseinandergehen.

Die Legenden der Nivesen erzählen auch von gefallenen Himmelswölfen. Am bekanntesten, da sie in Gestalt einer prachtvollen Silberwölfin selbst gerne durch die Steppen schreitet, ist Kyrjaka. Nachdem sie versuchte, das Himmelspaar zu stürzen, wurde sie aus der Ewiggrünen Ebene verbannt. Bis heute versucht sie, für diese Schmach Rache zu nehmen.

Einige sesshafte Nivesen im Bornland und dem Svellttal verehren neben den Himmelswölfen auch Firun – und vor allem seine Tochter Ifirn – als einzige der Zwölfgötter.


Nieijaa – Heilige Wesen

Nivesische Sagen berichten immer wieder davon, dass sich Mensch und Wolf in Liebe verbinden. Bisweilen ist eine solche Verbindung – wenn nämlich einer der Partner ein Heiliges Wesen ist – fruchtbar und bringt ein Kind hervor, ebenfalls ein Heiliges Wesen, von den Nivesen Nieijaa genannt. Ein solches Kind wird stets in der Gestalt des Vaters geboren und ist nicht zur Gestaltwandlung fähig. Geschlechtliche Verbindungen der Nieijaas untereinander sind aber unfruchtbar. Möglicherweise haben das die Himmelswölfe mit Absicht so eingerichtet, da die heiligen Wesen Mittler zwischen Mensch und Wolf sein sollen.

Für gewöhnlich wachsen die Nieijaas bei einem Wolfsrudel auf, was eher pragmatische als mythologische Gründe hat.

Sollte sich eine Nivesenmann mit einer Nieijaawölfi n einlassen, wird er seiner Gemahlin davon nicht unbedingt berichten; ebenso macht der stolze Nivesenvater Augen, wenn seine Gattin ihm ein kleines Wölfl ein gebärt. In einem solchen Fall wird eine Fehlgeburt vorgegaukelt und das Kind einem Wolfsrudel zur Adoption gegeben. Eifersucht ist eben auch den Nivesen nicht fremd.

Oft erinnern bei menschlichen Nieijaas Äußerlichkeiten an ihre Herkunft, beispielsweise haben sie eine graue Haarsträhne, auffallend gelbliche Augen oder ausgeprägte Eckzähne. Nieijaas in Wolfsgestalt sind für Menschen kaum von gewöhnlichen Wölfen zu unterscheiden. Man sagt ihnen nach, dass sie zwar die Menschensprache beherrschen und sogar aufrecht gehen können, sich aber auf diese Weise nur anderen heiligen Wesen offenbaren würden. Als erwiesen gilt, dass sie innerhalb des Rudels mit Respekt und Hochachtung behandelt werden, auch wenn sie nicht unbedingt die Leittiere sind.

Wolfskinder

Das Erbe des himmlischen Wolfspaares hat sich bis heute bewahrt, was sich unter anderem darin ausdrückt, dass sich einige Nivesen in Wölfe verwandeln können. Besonders häufig ist diese Fähigkeit unter den Nuanaä-Lie, den Wolfsjägern im Ehernen Schwert. Wolfskinder sind – abgesehen von ihrer besonderen Gabe – eigentlich ‘ganz gewöhnliche’ Menschen, die auch rein menschliche Eltern haben, und sind als solche nicht mit den Heiligen Wesen zu verwechseln. Tatsächlich sind unter Nivesen Verbindungen zwischen Wölfen und Menschen fruchtbar, auf Grund der Entfremdung beider Völker jedoch eine Seltenheit.

Ein Wolfskind wird in der Gestalt der Mutter geboren – als Wolf oder Mensch. Es kann seine Verwandlung meist bewusst herbeiführen, bei besonderer Erregung, starker Verwundung oder Ähnlichem kann sie aber auch gegen seinen Willen geschehen. Wolfskinder wählen oft früher oder später den Weg des Schamanen.

Das Leben nach dem Tod

Die Jenseitsvorstellung der Nivesen ist von der Schöpfungsgeschichte geprägt. Die Seelen der Verstorbenen ziehen in die Ewiggrüne Ebene ein (Nujuka: Tuundarikuinen, nicht zu verwechseln mit der Grünen Ebene nördlich der Roten Sichel), in der sie – wie die Menschen im Alten Land – niemals Hunger oder Kälte erleiden müssen. Um diese Seelenreise zu erleichtern, verbrennen die Nivesen ihre Toten. Der Rauch trägt den Geist des Verstorbenen zur Ewiggrünen Ebene, die jenseits des Himmelsgewölbes liegt, das wiederum am Himmelsturm aufgehängt ist.

Die Nivesen verehren ihre Ahnen sehr und ihre Geister werden oftmals angebetet und um Rat gefragt. Jedes Sippenmitglied kennt Geschichten über seine Vorfahren, so dass diese in den Erzählungen stetig weiterleben. Um diese Art der Unsterblichkeit zu erlangen, ist auch jeder Nivese bemüht, eine Tat zu vollbringen, an die sich seine Nachfahren noch erinnern werden.

Sagen und mystische Orte

Die Nivesen kennen eine wahre Unzahl von Sagen, die an langen Winterabenden erzählt werden. Für den Mittelländer ist es schon unbegreiflich, wie die Nomaden diese unübersehbare Vielfalt an Geschichten im Gedächtnis behalten können. Die Legenden sind – ähnlich den Sagas der Thorwaler – sehr lang, und die Erzählabende gleichen oftmals einem Wettbewerb, in dem es darum geht, der Geschichte hier und da noch weitere Schnörkel hinzuzufügen.

Gerade tragische Geschichten, die von Liebe, Leid und Eifersucht handeln, sind bei den Nivesen beliebt. Oft geht es in den Sagen natürlich auch um Menschen und Wölfe, wobei die Zweibeiner meist die Bösewichte sind. Viele Legenden haben zumindest einen wahren Kern, und die Orte, an denen sie sich abspielten, sind den Nivesen oft heilig.

Genannt sei hier der Nivilaukaju-Stein (ein Nivesenmädchen tötete hier die Wolfsgeliebte ihres Bräutigams) bei Riva, an dem regelmäßig den Himmelswölfen Karene geopfert werden. Manche Schauplätze der Sagen und Geschichten gelten aber auch als verfl ucht, da hier die ruhelosen Geister der unglücklichen Toten (und davon gibt es viele in den Nivesenmärchen) umhergehen. Und nichts fürchtet der Nivese mehr als eine Seele, die nicht dort ist, wo sie hingehört, nämlich in einem lebendigen Körper oder in der Ewiggrünen Ebene. Mit viel Phantasie erkennen die Nivesen Abbilder von Menschen oder Tieren in der Natur. Besonders häufig gibt es natürlich Wolfsbäume, Wolfssteine und Wolfsseen. Hier werden oftmals die Verhandlungen mit den Wölfen über den Fleischtribut geführt. Die Nivesen errichten primitive Steinkreise, von denen häufi g angenommen wird, dass sie der religiösen Verehrung der Himmelswölfe dienen. Dem ist nicht so. Die Kreise, die übrigens eher unscheinbar sind und aus Findlingen bestehen, die selten einmal mehr als 150 Stein wiegen, liegen allesamt auf magischen Kraftlinien. Wo immer der Weg einer Nivesensippe eine solche arkane Ader schneidet, wird ein Steinkreis errichtet, in den sich der Schamane zur Meditation zurückzieht und so seine Zauberkräfte auffrischt und stärkt.

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Язык: Deutsch | Категория: Beitrag | Автор: Im Bann des Nordlichts | Дата: 02.05.24 | Просмотров: 26 | Отзывов: 0

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